Interview mit Lena, einer der Gründerinnen vom Küstenhund

Der Tierschutzverein Küstenhund möchte besonders für den achtsamen Umgang mit Tieren sensibilisieren. Hieraus haben sich verschiedene, teils länderübergreifende Projekte entwickelt. Der Küstenhund lenkt mit seinen Projekten auf Themen, die sonst beim Tierschutz leicht übersehen werden und macht sich daran, unmittelbare Hilfe zu leisten. Welche Projekte im Einzelnen das sind, wie sie entstanden und ablaufen und welche Ziele sie verfolgen, das hat uns Lena, eine der Gründerinnen und Vereinsvorsitzende des Küstenhundes in einem gemeinsamen Gespräch berichtet. 

Hallo Lena. Was hat dich dazu bewogen, den Küstenhund ins Leben zu rufen? 

Ich war vor Küstenhund in einem anderen Verein tätig, der ausschliesslich Auslandsvermittlungen gemacht hat. Ich habe viele Erfahrungen und Eindrücke sammeln dürfen, jedoch kam ich irgendwann an den Punkt, an dem ich mir dachte: klar verändert sich für diesen einen vermittelten Hund etwas, aber was ist mit den anderen, die nicht vermittelt werden? Und muss nicht auch etwas an der Situation vor Ort verändert werden, wenn wir wirklich nachhaltig etwas verbessern möchten? Ich habe mich dann dazu entschlossen, einen eigenen Verein zu gründen und hatte gleich Menschen an meiner Seite, denen das gleiche wichtig war, wie mir und die auch langfristig etwas verändern wollten.

Du hast dich dafür entschieden, verschiedene Projekte mit dem Küstenhund in Angriff zu nehmen. Magst du uns einen kleinen Einblick geben, was ihr bisher unternommen habt und welche Aktionen ihr derzeit durchführt? 

Wir haben unterschiedliche Projekte und Ansätze im In- und Ausland. In unserer Heimatstadt Stuttgart haben wir die „Kalte Schnauze“ ins Leben gerufen, eine Art Tiertafel für hilfsbedürftige und obdachlose Hundebesitzer. Sie finden in uns eine Anlaufstelle, wenn z.B. das Futter knapp wird oder werden mit wärmenden Hundemänteln im Winter versorgt. Wir möchten ihnen aber auch Raum geben, für Sorgen und Anliegen rund um den Hund und besprechen Notsituationen bei einer Tasse Kaffee.

Im Ausland möchten wir den Tierheimen vor Ort helfen, sich besser auszubauen. Das eine benötigt einen Operationstisch um Kastrationen durchführen zu können, die anderen unterstützen wir bei der Vergrösserung der Aussengehege. Nicht jeder Hund wird schnell vermittelt und damit denen, die sich gerade dort befinden, das Leben wieder etwas lebenswerter gemacht werden kann, investieren wir vor Ort.

Aus diesem Grund führen wir auch immer wieder Kastrationsprogramme durch. „Not verhindern bevor sie entsteht“ ist dabei unser Leitsatz.

Vielen Dank für diesen Einblick in eure Tätigkeitsschwerpunkte. Jedes einzelne Projekt für sich genommen ist schon so toll und wichtig. Wir finden es unglaublich stark, dass ihr euch so vielfältig aufstellt. Du hast von der Kalten Schnauze berichtet und schon ein wenig in die Hintergründe eingeführt. Wie ist die Idee dazu entstanden, wie hat sich die Kalte Schnauze entwickelt und wie wird sie angenommen, sowohl von den Bedürftigen, wie auch den Spendern?

Die Idee ist aus einem furchtbar kalten Winter entstanden. Ursprünglich war geplant, dass wir wärmende Hundemäntel und -decken mit ein bisschen Futter verteilen, da wir wussten, dass viele Obdachlose mit ihren Hunden auf der Strasse sind. Schnell hat sich herausgestellt, dass gerade die konstante Hilfe fehlt. Also ein Ort, an dem Hilfsbedürftige regelmäßig Futter und Zubehör bekommen, denn Hilfsangebote für den Menschen gab es viele, für ihren Hund allerdings nicht.

In Selbstorganisation haben wir uns mit einem kleinen Helferkreis dazu entschlossen, genau hier eine Lösung zu bieten und die Kalte Schnauze ins Leben gerufen. Zu Beginn kamen einige wenige Menschen mit ihren Hunden. Inzwischen kommen fast 100 Besucher und noch viel mehr Hunde zu uns. Damit wir so viele mit Futter versorgen können, hat sich unser Helferkreis inzwischen auf über 20 Menschen erweitert und es melden sich immer wieder Leute bei uns, die mithelfen möchten, sei es durch tatkräftiges Mit-Anpacken oder durch Sachspenden. Wir bekommen Unterstützung von vielen, vielen Spendern. Es sind private Spender dabei, aber auch Fressnapf schickt uns regelmässig riesige Paletten mit unterschiedlichsten Dingen, wie z.B. Kauknochen und Hundebetten.

Es gibt nahezu bei jeder Kalten Schnauze eine Situation, die mir ans Herz geht. Manchmal sind es dankbare Worte, die die Hilfsbedürftigen für uns finden oder der liebevolle Umgang mit dem eigenen Hund. Ein Besucher kommt nun schon fast von Anfang an zur Kalten Schnauze und benötigt für Hin- und Rückfahrt mehrere Stunden mit der Bahn. Er ist mit ganz wenig Hundefutter zufrieden und ist sehr darauf bedacht, niemandem etwas wegzunehmen. Da merkt man einfach, dass es vielen wichtig ist zu kommen. Dass wir zu einem wichtigen Treffpunkt geworden sind, der über die Ausgabe von Hundefutter hinaus geht. Das ist genau das, was wir erreichen wollten.

 “KASTRATIONSPROJEKTE SIND DIE EINZIGE MÖGLICHKEIT, DAS LEID ZU VERHINDERN BEVOR ES ENTSTEHT.“

Neben der Kalten Schnauze, die ihr hier in Deutschland organisiert, seid ihr auch in anderen Ländern unterwegs, um Hilfe und Unterstützung zu leisten. So beispielsweise mit euren Kastrationsprojekten. warum sind diese dort so wichtig? Wie funktioniert das vor Ort? Wer unterstützt euch und wie nehmen die Leute aus den Städten in denen ihr unterwegs seid, eure Initiative auf?

Kastrationsprojekte sind die einzige Möglichkeit, das Leid zu verhindern, bevor es entsteht. Die meisten Besitzer im Ausland haben entweder noch nie etwas davon gehört, dass man Tiere kastrieren kann, um ständigen Nachwuchs zu verhindern oder sie haben nicht die finanziellen Mittel dafür. Tiere ohne Besitzer können sich noch schneller vermehren und landen dann irgendwann in den städtischen Tierheimen, weil es einfach zu viele werden.

Da wir selbst vor Ort keine eigenen Strukturen haben, arbeiten wir eng mit den einheimischen Tierschützern und Tierärzten zusammen. Sie haben den Kontakt zu den Tierbesitzern und deren Vertrauen. Ausserdem wissen sie, wo die Strassentiere aufzufinden sind, die noch nicht kastriert sind. Sie leisten bereits ständig Aufklärungsarbeit, denn sie sprechen mit den Hunde- und Katzenbesitzern, geben oft auch Flyer aus oder hängen Plakate auf. Wir unterstützen sie dahingehend, dass wir ihnen diese Kastrationskampagnen ermöglichen. Da die privaten Tierschützer selbst niemals so viel Geld dafür aufbringen könnten, stellen wir Spendengelder zur Verfügung und kastrieren dann neben den Strassentieren auch solche, die Besitzer haben, sich aber eine Kastration nicht leisten können. Im Vorfeld wird die Kastrationskampagne angekündigt und in der Stadt bekannt gemacht, über diesen Weg erfahren die Leute von uns und unserem Vorhaben und melden sich dann bei den Tierschützern vor Ort an.

WARUM KASTRATIONSPROJEKTE SO WICHTIG SIND

Hierzu ein kleines Rechenbeispiel. Eine nicht kastrierte Hündin kann im Jahr bis zu zwei Würfe haben. Die Zahl der Welpen variiert je nach Rasse, aber sagen wir einmal, jeder der beiden Würfe würde fünf Nachkommen mit sich bringen. Ausgehend davon, dass die ersten beiden Würfe eine gleiche Zahl weiblicher, wie männlicher Nachkommen vorgebracht hätte, so gäbe es bereits im nächsten Jahr 60 Nachkommen (2 Würfe des ersten Hundepaares sowie je 2 Würfe der weiblichen Nachkommen erster Generation). Diese Zahl potenziert sich im dritten Jahr bereits zu 360 Nachkommen, gefolgt von 2.160 im vierten Jahr, 12.960 im fünften Jahr, bis zu 21.155.390 im zehnten Jahr der Familienhistorie eines einzigen Hundepaars. Und dabei werden die männlichen Nachkommen, die auf eigene Partnersuche gehen nicht einmal hinzugerechnet!

Diese kleine Rechnung soll verdeutlichen, wie wichtig eine Populationskontrolle bei Strassenhunden ist. Insbesondere, da diese im Vergleich zu anderen Tieren wenig Fressfeinde haben und sehr anpassungsfähig auf die Gegebenheiten in ihrer Umgebung reagieren. Nun kann man einwenden, dass diese Rechnung an der Realität vorbei geht, da womöglich in einem Lebensraum für 10.000 Hunde Platz und Nahrungsgrundlage vorhanden ist, nicht jedoch für 21.000.000. Das stimmt natürlich und wird durch den Begriff der „Holding Capacity“ beschrieben. Demnach kann eine bestimmte Anzahl an Tieren, also beispielsweise Strassenhunden in einer Region leben, aber auch nicht viel mehr, da es an Rückzugsmöglichkeiten und Ernährungsgrundlagen mangelt, jedoch auch nicht weniger, da die Nachkommenschaft die Tiere, die dem Lebensraum entnommen werden oder versterben, bereits wieder auffüllen, sodass theoretisch eine in etwa konstante Zahl an Hunden in dieser Region leben wird. Das erklärt auch, warum das Einfangen und gezielte Töten von Strassenhunden verhältnismässig erfolglos bleibt. Denn die Lücken, die durch den Entzug der Tiere entstehen, werden stets durch neue Generationen gefüllt. Viel nachhaltiger und einzige reale Chance, die Population in den Griff zu kriegen, sind die Kastrationsprojekte. Denn in einem Lebensraum, in dem alle Hunde kastriert sind, können die Lücken nicht mehr durch Nachkommenschaften aufgefüllt werden, sodass sich die Gesamtzahl der Hunde über die Jahre stark reduziert.

Die Kastrationsprojekte allein reichen derzeit nicht aus, das Problem mit den auf den Strassen lebenden Tieren in den betroffenen Ländern unter Kontrolle zu bekommen. Daher werden über Tierheime vor Ort viele Hunde und Katzen ins Ausland wie zum Beispiel nach Deutschland vermittelt, um hier auf ein liebevolles Für-immer-Zuhause zu treffen. Doch nicht alle haben das Glück, erfolgreich vermittelt zu werden und so bleiben etliche von ihnen auf der Strecke und werden wohl den Rest ihres Lebens in den Tierheimen verbringen. Auch dazu habt ihr euch Gedanken gemacht und unterstützt die Einrichtung eines Open Shelter Projektes in Rumänien. 

Das Projekt Open Shelter liegt uns besonders am Herzen. Wie ihr schon erwähnt habt, kann man nicht jeden Hund vermitteln. Manche ziehen ein Leben ohne den Menschen vor oder können aufgrund ihrer Vorgeschichte und Erfahrungen nicht so in den Alltag eines Menschen integriert werden, dass er dabei glücklich wird. Für diese Hunde soll ein Areal geschaffen werden, auf dem sie sicher leben und ihren Bedürfnissen nachgehen können (Sozialkontakt pflegen, fressen, einen sicheren Schlafplatz haben). Delia und ihr Team, die das Projekt vor Ort leiten, werden zwar Schritt für Schritt versuchen, sie zu resozialisieren, um sie vielleicht doch irgendwann vermitteln zu können, aber das ist nicht das Hauptziel des Open Shelters. In erster Linie soll es ein Ort sein, an dem auch ängstliche und traumatisierte Hunde sicher und artgerecht leben können.

Wir finden wirklich aussergewöhnlich, was du und dein Team leistet! Welche Vision habt ihr für den Küstenhund?

Vielen lieben dank für diese Worte. Wir möchten unsere Projekte immer wieder neu überdenken und sie verbessern. Deshalb ist ein ständiger Austausch im Team unglaublich wichtig und wertvoll. Wir haben richtig tolle motivierte Menschen hinter uns, die zu 100 % hinter unseren Zielen stehen. Genau so möchten wir weitermachen.

Das freut uns wirklich zu hören. Wir sind restlos begeistert und finden einfach stark, wie ihr ein Problem identifiziert, gleich eine Lösung dafür entwickelt und sie direkt umsetzt. Das ist einfach phänomenal. Wir wünschen euch für die Zukunft alles beste und dass ihr auch weiterhin solch starke Projekte umsetzen könnt. Vielen, vielen Dank!